Montag, 24. Mai 2021

MEDIZIN - Das gefährliche Blut / Frankfurter Allgemeine 2015

Das gefährliche Blut


4,3 Millionen Blutspenden werden jährlich in Deutschland benötigt. Bild: Corbis

Bewerten Ärzte das Risiko von Transfusionen für den Empfänger falsch? Eine Gruppe von Medizinern setzt sich für ein Umdenken ein.

Jeder Patient sollte die Chance haben, sich so gut vorbereitet wie irgend möglich in eine Operation zu begeben“, sagt Professor Kai Zacharowski. Eine Aussage, die aus dem Mund des Direktors der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie am Uniklinikum Frankfurt eigentlich nicht wie eine Option klingen sollte, sondern wie eine sichere Zusage. Zacharowski - weißer, faltenfreier Kittel und leicht gegeltes Haar - ist bewusst, was er da sagt. Deswegen fügt er hinzu: „In unserem Gesundheitssystem, das zu den besten der Welt gehört, sind manche Dinge, die selbstverständlich sein müssten, nicht selbstverständlich.“ Er formuliert so provokativ, weil er wachrütteln will: „Es kann nicht sein, dass wir Patienten über bestimmte Dinge nicht aufklären, obwohl sie unter Medizinern bekannt sind.“

Mit „bestimmten Dingen“ meint Zacharowski im Speziellen die Risiken, die von Blutarmut und Bluttransfusionen für den Patienten ausgehen können. Und diese Risiken, so warnt nicht nur er, werden bisher in Deutschland unterschätzt. Der Patient wird gleich doppelt gefährdet.

Etwa 100.000 Mal am Tag presst unser Herz mit aller Kraft den roten Saft mit bis zu vier Stundenkilometern durch Arterien und Venen. Blut besteht aus einem flüssigen und einem zellulären Anteil. Eine Minute benötigt es, um einmal den ganzen Kreislauf zu durchfließen. Im flüssigen Plasma werden Eiweiße, Salze und vieles andere vom Ohrläppchen zum Sprunggelenk transportiert. Für die Verteilung des Sauerstoffs aber sind die roten Blutkörperchen, die Erythrozyten, zuständig. Sind von ihnen zu wenige im Körper vorhanden, sprechen Laien von Blutarmut und Ärzte von einer Anämie.


Blutarmut wird bei einer Operation zum Problem

„Etwa dreißig Prozent der Bevölkerung leiden unter einer Anämie, ein Großteil von ihnen weiß allerdings gar nicht, dass er betroffen ist. Denn mit einer Anämie, zumal einer leichten, kann man meist problemlos den Alltag bewältigen“, erläutert Zacharowski. Eine Blutarmut macht sich durch Müdigkeit und Leistungstief, Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit, blasse Haut oder Schwindel bemerkbar. Ihre zahlreichen Ursachen lassen sich grob in drei Gruppen einteilen: chronische oder akute Entzündungen, Störungen der Blutbildung sowie Blutverlust. „Das Groteske ist, dass die häufigsten Ursachen von Anämien in unserer Überflussgesellschaft auf Mangelernährung zurückzuführen sind“, sagt Zacharowski. Mangel an Eisen, Folsäure und Vitamin B12. Diese Nährstoffe brauchen rote Blutkörperchen, um voll funktionsfähig zu sein.

Auch wenn der Alltag mit einer Anämie noch ohne Mühe zu bewältigen ist, wird sie zu einem Problem, sobald der Betroffene operiert werden muss. Studien haben gezeigt, dass eine unbehandelte Anämie im Rahmen einer Operation mit einem erhöhten Risiko für Komplikationen verbunden ist. Um dieses Risiko zu verdeutlichen, referiert Zacharowski einige Zahlen: „Wer vor einer Operation unter keiner Blutarmut leidet, hat 30 Tage nach dem Eingriff eine Wahrscheinlichkeit von unter einem Prozent, an den Folgen zu sterben. Und zwar egal, bei welchem Eingriff, die Herzchirurgie mal ausgeschlossen.“ Bei leichten Anämien stiege diese Wahrscheinlichkeit auf fast vier Prozent, bei schweren Anämien auf zehn bis fünfzehn Prozent. Über dieses Risiko aber klärten Ärzte Patienten in Deutschland fast nie auf.

Als wäre das nicht schon unerwartet genug für die Ohren von Laien, fährt Zacharowski, fast ohne Luft zu holen, fort: „In Deutschland wird aber nicht nur über das Risiko einer Anämie nicht aufgeklärt, es wird teilweise vor einer Operation nicht mal nach einer Anämie beim Patienten geschaut, geschweige denn diese im Vorhinein therapiert.“ Stattdessen behandle man eine Anämie dann „lieber nach dem Eingriff mit der Gabe von Fremdblut“. Das Fatale daran: Im fremden Blut lauert eine weitere Gefahr für den Patienten, über die er aber meist ebenso wenig erfährt.

Die Wissenschaft hingegen weiß heute aus internationalen Studien, dass Patienten, die im Rahmen einer Operation Bluttransfusionen erhalten, später häufiger Infektionen wie Lungenentzündungen oder Blutvergiftungen entwickeln, öfter einen Herzinfarkt oder Schlaganfall haben und sogar eine erhöhte Sterblichkeit zeigen als „gleich kranke“ Patienten, die kein Spenderblut erhalten haben.

Unter einer „Blutspende“ verstehen Mediziner ein Konzentrat an roten Blutkörperchen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation werden weltweit jährlich 75 Millionen Blutspenden benötigt, davon etwa 4,3 Millionen in Deutschland. Große Universitätskliniken wie die in Hamburg sprechen von etwa 730 Blutspenden pro Woche


Weltmarktführer beim Einsatz von Blutprodukten

„Fremdes Blut ist immer eine Belastung für den Körper“, sagt Professor Patrick Meybohm. „Ist der Organismus von einer Operation geschwächt und das Immunsystem damit ausreichend beschäftigt, entstehen durch fremdes Blut schneller Infektionen.“ Meybohm ist Leitender Oberarzt an der Klinik von Professor Zacharowski. An diesem grauen Wintermorgen sitzt er Zacharowski an einem langen Holztisch, der das geräumige Chefarztbüro schmückt, gegenüber.
Hört man den beiden zu, wird deutlich: Operationen können zur doppelten Gefahr für Patienten werden - durch zu wenig oder durch fremdes Blut. Kommt beides zusammen, potenziert sich das Risiko für den Erkrankten. Ein Teufelskreis also.

Oder, wie es Zacharowski professioneller ausdrückt: „Deutschland ist Weltmarktführer beim Einsatz von Blutprodukten“, hierzulande werde oft „nachlässig“ und „leichtfertig“ die Entscheidung für eine Bluttransfusion getroffen. Man gebe „lieber schnell mal Blut“, als eine aufwendige Diagnostik und Therapie zu verfolgen. Das habe mehrere Gründe: Blut sei in der Regel ohne großen Aufwand zu besorgen, es sei relativ preiswert, führe meist schnell zur Besserung der Symptome, und eine Übertragung von Krankheitserregern komme kaum noch vor. Die Gründe der Kliniken für eine Güterabwägung zuungunsten der Erkrankten sehen Meybohm und Zacharowski im Unwissen manch ihrer Kollegen, in eingefahrenen Denkprozessen und vor allem in wirtschaftlichem Druck.

„Kliniken verdienen ihr Geld mit Operationen“, sagt Zacharowski. „Je mehr Patienten schnell operiert werden, desto mehr klingelt es in den Kassen. Zeit für eine gründliche Diagnostik bleibt dabei nicht.“ Um diesen pauschalen Aussagen Anschaulichkeit zu verleihen, greift der Mediziner zu einem Beispiel: Ein Mann, der an einer leichten unentdeckten Eisenmangelanämie leidet, soll ein neues Kniegelenk bekommen. Ein geplanter, nicht dringender Eingriff. Sein niedergelassener Orthopäde bekommt für eine Anämie-Diagnostik vor der OP aber kein Geld, deshalb schickt er den Patienten ohne diese in die Klinik. Dort stellen sich nun mehrere Szenarien, die Zacharowski mit nachdrücklicher Gestik durchspielt.


„Patient Blood Managment“ soll Anämien aufdecken

„Erstens“, Zacharowski umgreift mit seiner linken Hand den rechten Daumen: „Die Ärzte halten eine solche Diagnostik, die Geld und Zeit kostet, bei einem augenscheinlich gesunden Patienten für nicht nötig und operieren einfach.“ Seine Hand wandert zum Zeigefinger: „Zweitens: Sie führen eine Diagnostik durch, stellen die Anämie fest, operieren aufgrund des wirtschaftlichen Drucks aber trotzdem und geben im Fall der Fälle dem Patienten nach der OP Fremdblut.“ Zacharowski ist nun am Mittelfinger angelangt. „Drittens: Die Ärzte schicken den Patienten zur Behandlung der Anämie mit Eisen-Präparaten nach Hause und riskieren, dass der Orthopäde Patienten das nächste Mal in eine andere Klinik schickt, in eine, in der es schneller geht.“

In ihrer Klinik wollten die beiden Mediziner etwas ändern und haben vor eineinhalb Jahren zusammen mit Kollegen die Initiative „Patient Blood Management“ ins Leben gerufen. Ein Projekt, das mit Hilfe verschiedener Maßnahmen dafür sorgen soll, dass Anämien vor Operationen aufgedeckt werden und der Bedarf an Bluttransfusionen reduziert wird. Das Konzept zieht sich von der Aufnahme in die Klinik über den Operationssaal und den Aufwachraum bis zur normalen Station. Zu den Maßnahmen zählen: das korrekte Absetzen blutverdünnender Medikamente vor dem Eingriff, blutsparende Operationstechniken, alternative Narkoseverfahren, das Sammeln, Aufarbeiten und Zurückgeben des Wundblutes und die Reduzierung der Blutabnahmen für Laboranalysen. Mit der letzten Maßnahme konnten die Frankfurter Ärzte im vergangenen Jahr das abgenommene Blut auf der Intensivstation pro Patient und Woche im Schnitt von 700 auf 300 Milliliter reduzieren. Bezogen auf das gesamte Uniklinikum, wurden so 2014 etwa 2000 Liter Blut weniger abgenommen.

Um wie viel Prozent der Verbrauch von Blutkonserven seit Einführung des „Patient Blood Management“ gesenkt werden konnte, will Meybohm noch nicht verraten. Im vergangenen Jahr wurde in Frankfurt die weltweit größte Studie zu diesem Thema durchgeführt. Die Daten sollen 2015 wissenschaftlich publiziert werden. „Aber“, so viel verrät er dann doch: „Die Abnahme der eingesetzten Blutkonserven ist signifikant, vor allem im chirurgischen Bereich.“

Nach den Erfolgen im eigenen Haus haben sich die beiden Ärzte an andere Kliniken gewandt und vor einem Jahr das „Deutsche Patient-Blood-Management-Netz-werk“ geg6ründet, dem inzwischen mehr als 30 Kliniken angehören. Die Frankfurter stellen Krankenhäusern, die sich für die Maßnahmen interessieren, ihr Know-how zur Verfügung, schulen Mitarbeiter und verteilen Informationsmaterial. Selbstverständliches soll selbstverständlich werden.


Geringer Verbrauch von Fremdblut muss belohnt werden

Doch der Widerstand innerhalb der Ärzteschaft ist noch groß. „Das habe ich schon immer so gemacht“, „Blut hat sich als Therapie bewährt“ - solche Antworten bekommt Zacharowski oft zu hören. Rund acht von zehn Ärzten, so hat er festgestellt, sind immer noch der Meinung, sie täten dem Patienten mit einer Bluttransfusion prinzipiell etwas Gutes. Auch im Studium ist ein eher unbekümmerter Umgang mit Fremdblut noch Lehrmeinung.

Deshalb fordert Zacharowski von der Politik ein stärkeres Eingreifen - zum Schutz der Patienten. Er will, dass gesetzlich verankert wird, dass Patienten mit geplanten Eingriffen sich vier Wochen vor der Operation beim Anästhesisten vorstellen müssen, um nach einer Anämie zu schauen. Wenn die Klinik eine feststellt und sich die Zeit nimmt, diese zu behandeln, statt zu operieren, muss das belohnt, muss Qualität honoriert werden, ebenso wie der geringe Verbrauch von Fremdblut. Dabei stellt Zacharowski klar: „Wir sind nicht gegen Transfusionen. Wir sind für den richtigen Einsatz beim richtigen Patienten. Hat jemand bei einem schweren Unfall viel Blut verloren, braucht er eine Transfusion, um zu überleben.“ Das jedoch ist nach Statistiken des Deutschen Roten Kreuzes nur bei zwölf Prozent der Bluttransfusionen der Fall.


Konfrontiert man das Bundesgesundheitsministerium in Berlin mit den Forderungen der Frankfurter Ärzte, heißt es: Wissenschaftlich konsistente Hinweise zu potentiellen Risiken von Bluttransfusionen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein behördliches Eingreifen erfordern würden, seien derzeit nicht bekannt. Das Paul-Ehrlich-Institut werde die Entwicklung jedoch weiterhin beobachten und bewerten.

Erst mal muss der Patient also weiter darauf hoffen, dass sein Arzt ihn vollständig aufklärt und fremdes Blut nicht bedenkenlos einsetzt. Im Zweifelsfall aber sollte er nachfragen, das raten auch die Frankfurter Ärzte. Denn das größte Interesse daran, mit den besten Voraussetzungen in eine Operation zu starten, hat am Ende der Patient nun mal selbst.

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